Sir Edwin Henry Landseer. Loch Avon and the Cairngorm Mountains (1833).

Nan Shepherd:
»The Living Mountain«

Buchkritik


★ ★ ★ ★ ☆


12. April 2020 • Autor: red.


Was heißt es, einen Berg zu kennen? In The Living Mountain (dt. Der lebende Berg) widmet sich die schottische Schriftstellerin Nan Shepherd (1893–1981) genau dieser Frage. Ganz in der Tradition des Nature Writing verwebt sie persönliche Erfahrungsberichte, historische Anekdoten und naturkundliche Betrachtungen zu einer intimen, geo-poetischen Liebeserklärung an die Cairngorms — die Berge ihrer Heimat.

Wie Shepherd zu Beginn des Buches gesteht, ist es zunächst nur der Rausch der Höhe, der sie in die raue Wildnis der schottischen Highlands lockt. Das Verlangen nach abgelegenen Gipfeln und grandiosen Fernsichten. Es ist nicht der Berg an sich, der sie interessiert, sondern vielmehr der Effekt des Berges auf den Wanderer.

Doch schon bald bemerkt Shepherd die Oberflächlichkeit dieser Art des Wanderns. Erst als sie anfängt, ziellos durch die Cairngorms zu streifen — nicht um persönliche Rekorde zu brechen, sondern einfach nur, um ihren Heimatbergen Gesellschaft zu leisten — offenbart sich ihr die wahre Essenz des Gebirges.

Der »totale Berg«, wie sie es nennt, ist nicht nur ein Gipfel, sondern vielmehr die Summe seiner Einzelteile: der Fels und das Wasser, der Frost und der Schnee, die Luft und das Licht, die Pflanzen, Vögel, und Insekten, und natürlich auch die Menschen, die die Cairngorms ihre Heimat nennen.


So there I lie on the plateau, under me the central core of fire from which was thrust this grumbling grinding mass of plutonic rock, above me blue air, and between the fire of the rock and the fire of the sun, scree, soil and water, moss, grass, flower and tree, insect, bird and beast, wind, rain and snow — the total mountain.

— Nan Shepherd: The Living Mountain


In zwölf kompakten Kapiteln schildert Shepherd ihre persönlichen Eindrücke zu all diesen Facetten, die ihrer Meinung nach die Cairngorms zu dem machen, was sie sind. Sie schreibt von den skurrilen Eisgebilden, die in den kristallklaren Gebirgsbächen entstehen, wenn Wasser und Frost gegen einander ankämpfen, der Hartnäckigkeit des Klippenleimkrauts, das der harschen Witterung der Highlands trotzt, den übereifrigen Flugeinlagen der Mauersegler, dem majestätischen Kreisen der Steinadler, und natürlich auch von dem Einfluss der Menschen auf ihre Umwelt. Und letztlich, so stellt Shepherd fest, ist auch der Wanderer selbst — genauso wie der Stern-Steinbrech und das Alpenschneehuhn — nur ein Teil dieses großen Ganzen: eine Manifestation des Berges.


I have walked out of the body and into the mountain. I am a manifestation of its total life, as is the starry saxifrage or the white-winged ptarmigan.

— Nan Shepherd: The Living Mountain


Nan Shepherds reichhaltige und bildhafte Beschreibungen erwecken nicht nur die Wildnis der Cairngorms zum Leben, sondern regen den Leser ferner zum Umdenken an. Wer wahrlich profunde Erfahrungen sammeln will, muss mit offenen Augen durch die Berge schreiten. Obwohl The Living Mountain bereits in den frühen 1940er Jahren entstand, wirkt Shepherds poetische Prosa auch heute noch zeitlos und ergiebig, und gehört — wie Robert Macfarlane im Vorwort treffend anmerkt — zu Recht zu den Klassikern der Naturliteratur.

Autor: Nan Shepherd • Titel: The Living Mountain • Verlag: Canongate Books Ltd.
ISBN: 0857861832