Auf der Suche nach einhundert Vögeln

Prolog


01. Januar 2022 • Autor: red.


Übersicht

In dieser neuen, monatlich erscheinenden Essay-Serie begibt sich unser Autor auf eine ornithologische Entdeckungsreise, die ihn und seine Leser durch den Südwesten von British Columbia führen wird. Sein ambitioniertes Ziel: bis zum Ende des Jahres 100 verschiedene Vogelspezies zu Gesicht zu bekommen.

Vancouver, BC — 01. Januar 2022. Eigentlich ist Vancouver für seine milden und schneearmen Winter bekannt. Davon ist an diesem Neujahrsmorgen allerdings nichts zu merken. Ein geradezu winterliches Idyll begrüßt mich, als ich mit meinem Mantel nach draußen trete, um etwas frische Luft zu schnappen.

Während ich meine Blicke über den tief verschneiten Hinterhof schweifen lasse, wird die Stille des Morgens plötzlich durch ein sanftes Brummen durchbrochen. Es ist ein winziger Anna-Kolibri (Calypte anna), der den knallroten Nektarspender in meinem Hinterhof entdeckt hat und ihn hoffnungsvoll ansteuert. Zweifelsohne macht die klirrende Kälte diesem kleinen Gesellen zurzeit auch zu schaffen.

Während ich den Kolibri beobachte, wie er um den Nektarspender saust, fällt mir schlagartig wieder Lev Parikians letztes Buch ein: »Why Do Birds Suddenly Disappear«. Es handelte von einem britischen Dirigenten (und Hobby-Vogelkundler), der sich vorgenommen hatte, 200 Vögel in einem Jahr zu sehen.

200 Vögel in einem Jahr? Ein stattliches Unterfangen, und natürlich viel zu ambitioniert für einen Laien wie mich. Aber um nach zwei Jahren Pandemie mal wieder regelmäßiger aus dem Haus zu kommen, könnte ich seinem Projekt ja eventuell in einem etwas kleineren Maßstab nachstreben. Vielleicht 100 Vögel?

Als grünohriger Novize kann ich die Machbarkeit dieses Projekts nur schwerlich beurteilen. Sind 100 zu ambitioniert? Oder nicht ambitioniert genug? Zur Sicherheit erkundige ich mich bei meinem Professor, der in seiner Freizeit ein begnadeter »Birder« ist. Er hält 100 für eine gute Zahl.

Ein Anna-Kolibri (Calypte anna).

Ein Anna-Kolibri-Männchen steuert den Nektarspender in meinem Hinterhof an.

Somit steht der Entschluss fest. Die nächsten zwölf Monate werde ich damit verbringen, stundenlang in Baumkronen und Büsche zu starren.

Damit ich nicht noch auf dumme Gedanken komme, stelle ich mir auch noch ein kleines Regelwerk zusammen:

Für mein Projekt zählen selbstverständlich nur wilde Vögel. Ein Ausflug in das Bloedel Conservatory, die markante Voliere im Queen Elizabeth Park, oder zu den Pinguinen im Vancouver Aquarium kommt also nicht in Frage.

Auch kommen nur Vögel auf meine Liste, die ich eindeutig und mit Sicherheit bestimmen kann. Eine undefinierbare dunkle Gestalt, die ich lediglich im Vorüberhuschen wahrnehme, ehe sie im Gebüsch verschwindet, wird sicherlich nicht als mutmaßlicher Steinadler (Aquila chrysaetos) vermerkt.

Zu guter Letzt möchte ich mein Projekt auch möglichst lokal halten, begrenzt auf den Südwesten von British Columbia. Natürlich würde ich auf Haida Gwaii oder an der Grenze zu Alaska sicherlich ein leichteres Spiel haben, irgendwelche raren Wasservögel zu sehen, doch dem Klima zuliebe will ich auf Flugreisen und lange Autofahrten, wenn möglich, verzichten.

Während ich noch überlege, wo es mich die nächsten Wochen trotzdem überall hinverschlagen könnte, ist von dem kleinen Anna-Kolibri an meinem Nektarspender nichts mehr zu sehen. Er muss schon wieder weitergezogen sein.

Mir die kalten Hände reibend schleiche ich zurück in die warme Wohnung und beginne meine Liste.

01. Januar: Anna-Kolibri.

Der nächste Teil dieser Essay-Serie erscheint Anfang Februar 2022 auf Outdoor-Clan.de.