Castor und Pollux in den Walliser Alpen.

Am Limit

Eine Hochtour auf den Pollux


17. Juli 2016 • Autor: red.


Übersicht

Dieser Bericht behandelt die Besteigung des Pollux (ital. Polluce) in den Walliser Alpen. Der Ausgangspunkt dieser beliebten Hochtour ist das Matterhorn Glacier Paradise am Klein Matterhorn. Von dort überqueren wir gemeinsam mit unserem Zermatter Bergführer zunächst den Breithornpass und steigen anschließend über den anspruchsvollen Südwestgrat hinauf auf den Gipfel des Pollux. Nach einer wohlverdienten Gipfelpause geht es daraufhin über dieselbe Route wieder zurück zur Seilbahnstation am Klein Matterhorn.

Schwierigkeit: WS+, UIAA IIIGPS-Route: DownloadWanderkarte: Kompass 117

Sturz ins Leere

Vorsichtig taste ich mit den Stahlzacken meiner Steigeisen nach einem Tritt. Kurz denke ich dabei an den jähen Abgrund, der gerade unter mir klafft. Doch dann konzentriere ich mich lieber wieder auf die Wand. Gerade als ich einen sicheren Stand gefunden habe und den nächsten Schritt einleiten will, passiert es. Ratsch! Hilflos kratzen meine Steigeisen über den kahlen Fels. Ein kurzer Augenblick des freien Falls. Dann spannt sich das Seil und ich baumle über dem Nichts. Mal wieder. Dabei fing der Morgen so gemütlich an.

Unterwegs ins Gletscher-Paradies

Es ist kurz nach sechs Uhr morgens, als wir uns mit Angelo an der Talstation des Matterhorn Glacier Paradise in Zermatt treffen. Gemeinsam mit dem jungen Bergführer wollen wir heute unseren zweiten Viertausender besteigen: den Castor (4223m). Bevor wir gleich in die Gondel zum Klein Matterhorn (3883m) steigen, geht er mit uns noch einmal schnell die Ausrüstung durch. Steigeisen, Klettergurt, Eispickel, Gamaschen, Sonnenbrille – das alles werden wir für die heutige Tour brauchen. Doch wie gewohnt haben wir uns sorgfältig vorbereitet. »Sehr gut«, nickt Angelo, als er sieht, dass wir nichts vergessen haben. »Dann lasst uns mal zur Gondel gehen!«

Das Matterhorn Glacier Paradise am Klein Matterhorn.

Unsere Tour zum Pollux beginnt an der Bergstation des Matterhorn Glacier Paradise.

Knappe 45 Minuten später trudeln wir an der Bergstation des Matterhorn Glacier Paradise (3831m) ein. Es ist ein herrlicher Morgen! Die Sonne hat sich mittlerweile hinter dem Breithorn (4164m) hervorgewagt und der azurblaue Himmel zeigt sich heute wieder einmal wolkenlos. Besser könnte das Wetter für so eine Hochtour gar nicht sein! »Am besten cremt ihr euch noch einmal ein«, empfiehlt uns Angelo, während er uns jeweils einen Karabiner reicht und das Seil darin einfädelt. »Nicht, dass ihr einen Sonnenbrand bekommt.« Das lassen wir uns nicht zweimal sagen!

Das Abenteuer beginnt

Nachdem die Sonnenmilch wieder im Rucksack verstaut ist, kann es endlich losgehen. Von der Bergstation aus folgen wir zunächst der Skipiste gen Süden. Während wir gemütlich unter dem Sessellift hindurchstapfen, gibt uns Angelo noch ein paar letzte Anweisungen mit auf den Weg. »Tretet nicht auf das Seil, haltet Abstand, und macht bitte, was ich euch sage«, ruft er uns über seine Schulter zu. Dann führt er uns auch schon auf den Breithorngletscher hinaus. Ein eiskalter Wind fegt heute über das endlos scheinende Plateau und treibt dichte Schneefahnen vor sich her. Die Szenerie wirkt fast wie aus einem Endzeitfilm. Ja, wenn da nicht die Menschenmassen wären...

Der Breithorngletscher.

Der Wind peitscht heute Morgen über den imposanten Breithorngletscher.

Der lange Marsch in Richtung Castor

Wie zu erwarten, sind wir bei Weitem nicht alleine unterwegs. Zahlreiche andere Seilschaften haben sich heute Morgen von der Bergstation auf den Weg gemacht, um genau wie wir auf Gipfeljagd zu gehen. Doch während es die Meisten direkt in Richtung Breithorn (4164m) zieht, steuern wir erst einmal den Breithornpass (3824m) an. Von dort haben wir zum ersten Mal einen Überblick über das, was uns noch bevorsteht. Mächtig erhebt sich die verschneite Nordwestflanke des Castor (4223m) am Horizont. Doch der Weg dorthin scheint weit. Sehr weit. Irgendwie hatten wir uns das leichter vorgestellt. Aber es hilft ja nichts, da müssen wir nun durch!

Spalten und Risse

Ohne zu zögern folgen wir der breiten Spur über unzählige Auf- und Abschwünge in Richtung Castor (4223m). Dabei entdecken wir am Wegesrand eine Gletscherspalte nach der anderen. »Wie tief es da wohl runtergeht?«, fragen wir unseren Führer neugierig. »Etwa 60 Meter«, erwidert Angelo trocken. »Glaubt mir, da wollt ihr nicht hineinstürzen.« Als wir kurz darauf einen steil abfallenden Hang queren, fällt mir plötzlich ein riesiger Riss direkt unterhalb des Weges auf. Die Spalte verläuft parallel zu unserer Route. Unweigerlich frage ich mich, was wohl passieren würde, wenn einer von uns hier plötzlich einen Abgang macht. Könnten wir den Sturz irgendwie halten oder würden wir für immer im Gedärm des Gletschers verschwinden? Lieber nicht darüber nachdenken!

Gletscherspalten auf dem Weg zum Pollux.

Am Wegesrand stoßen wir auf zahlreiche Gletscherspalten.

Eine Planänderung

Nach 45 Minuten erreichen wir schließlich den Fuß des Pollux (4092m). Zeit für eine Pause! »Na, wie geht’s euch? Seid ihr noch fit?«, erkundigt sich Angelo fürsorglich. Während mein Begleiter noch vor Kraft strotzt, hat das ständige Auf und Ab sowie die dünne Höhenluft bei mir bereits deutliche Spuren hinterlassen. »Ich bin ehrlich gesagt ziemlich platt«, gebe ich zu. »Platt? Jetzt schon? Das ist schlecht. Bis zum Castor sind es noch locker zwei, drei Stunden.« Während ich meine Augen über die 50 Grad steile, stark vergletscherte Nordwestflanke des Viertausenders schweifen lasse, wird mir klar, dass das heute wohl nichts mehr wird. Was nun? War es das für heute? Müssen wir ohne Gipfelerfolg nach Hause kehren? Doch Angelo hat zum Glück eine Alternative parat: »Dann lasst uns einfach den Pollux machen,« schlägt er kurzerhand vor. »Der geht deutlich schneller.« Gesagt, getan!

Der Gipfelaufbau des Pollux.

Ein Gigant aus Fels und Eis: der Pollux!

Der Südwestgrat des Pollux

Während Angelo aus unseren Trekkingstöcken eine Wegmarke bastelt, nehmen wir noch einmal einen Schluck aus unseren Wasserflaschen. Dann geht es ans Eingemachte. Im Gänsemarsch stapfen wir auf den felsigen Südwestgrat des Pollux (4092m) zu. Dieser sieht von unten allerdings wilder aus, als er tatsächlich ist. Mit Hand und Fuß arbeiten wir uns relativ problemlos durch das leichte Kraxelgelände und machen dabei schnell einige Höhenmeter gut. Doch dann kommt unser Aufstieg plötzlich ins Stocken. »Die Schlüsselstelle«, ruft uns Angelo zu. Diese besteht aus einer schrägen Platte, einem engen Kamin, und einer zehn Meter hohen, senkrechten Wand (UIAA III). Obwohl die ganze Passage großzügig mit Fixseilen ausgestattet ist, kommt es hier zu einem regelrechten Stau.

Bildergalerie: Pollux

Chaos an der Schlüsselstelle

Von unten drängen mehrere Seilschaften nach oben. Von oben drängen mehrere Seilschaften herab. Es sind chaotische Szenen. Schließlich packt Angelo die Ungeduld. Vorsichtig lotst er uns an einer anderen Seilschaft vorbei und führt uns in eine schmale Rinne unterhalb des Kamins. »Schau genau zu, wie ich meine Füße setze«, ruft er mir zu und hangelt sich in der engen Rinne wie eine Katze nach oben. »Und jetzt Du!« Doch schnell wird klar, dass sich an dieser Stelle die Spreu vom Weizen trennt. An den nahezu glatten Wänden finde ich einfach keinen Halt. Ich unternehme mehrere Anläufe, versuche irgendwo einen Tritt zu finden, doch es hilft nichts. Immer wieder rutsche ich ab. Von oben herab drängt mich Angelo, es weiter zu versuchen: »Das geht schon. Probier’s nochmal!« Und in der Tat: Nach einigen weiteren Versuchen finde ich einen schmalen Tritt und kann mich ein Stück nach oben ziehen. Noch zwei Meter, dann bin ich aus der Rinne raus! Doch als ich den nächsten Schritt setzen will, verlieren meine Stiefel auf dem nassen Fels den Halt. Im Bruchteil einer Sekunde stürze ich nahezu die gesamte Rinne wieder hinab, bis mich das Seil schließlich auffängt. »So ein Mist!«

Schließlich sieht auch Angelo ein, dass das so nichts wird, und so lotst er uns zurück zum Anfang der Schlüsselstelle. Dort, bei der schrägen Platte, hat sich der Stau mittlerweile aufgelöst und wir müssen nur noch auf ein, zwei andere Seilschaften achtgeben. Vorsichtig machen wir uns wieder ans Werk und wenden uns der Traverse zu. Dank einiger guter Tritte und dem Fixseil lassen wir die Platte schnell hinter uns. Auch der darauffolgende Kamin stellt uns vor keine größeren Probleme. Nur ein paar kurze Züge an der Eisenkette, und auch dieser Abschnitt ist geschafft. »Sehr gut«, lobt uns Angelo.

Der Kamin am Pollux.

Von oben blicken wir zurück auf die zweite Passage der Schlüsselstelle: den Kamin.

Doch jetzt kommt es noch einmal knüppeldick. Eine zehn Meter hohe, nahezu senkrechte Felsstufe (UIAA III) baut sich vor uns auf. Die Wand ist steil, doch zum Glück gibt es einige gute Tritte und Griffe. Während Angelo voraussteigt, überlege ich mir schon einmal, wo ich meine Hände und Füße hinsetzen werde. Als er oben angekommen ist, ruft er uns zu, nachzukommen. Doch nach einigen Schritten muss ich bereits wieder stehen bleiben, da mir von oben ein Italiener ungesichert entgegenkommt. Angelo wird langsam ungeduldig: »Komm, weiter geht’s! Wenn Du auf jeden wartest, der Dir entgegenkommt, wird das heute nichts mehr.« Doch als ich sehe, wie panisch der Italiener nach Griffen sucht, warte ich doch lieber noch einen Moment. Als der Weg dann frei ist, schließen wir schnell zu unserem Bergführer auf.

Die Schlüsselstelle am Pollux.

Eine zehn Meter hohe Felswand ist die letzte große Hürde vor dem Gipfel.

Auf dem Gipfel des Pollux

Pollux
AliasPolluce
LandSchweiz | Italien
GebirgeWalliser Alpen
KammMonte-Rosa-Massiv
Höhe4092 m
Koordinaten45°55′40″N, 07°47′07″E

Das Schlimmste haben wir hinter uns! Bei einer großen Marienstatue am oberen Ende der Wand legen wir die Rucksäcke ab und kramen unsere Steigeisen heraus. Auch der Eispickel kommt nun endlich zum Einsatz, denn das Einzige, was uns jetzt noch vom Gipfel trennt, ist ein kurzer Firngrat. Schritt für Schritt kämpfen wir uns auf der verschneiten Flanke langsam nach oben. Dann haben wir es geschafft! Wir stehen auf dem Gipfel des Pollux (4092m), unserem zweiten Viertausender! Zufrieden stecken wir die Eispickel in den Schnee und klatschen uns ab. »Tip-top!«, gratuliert uns Angelo.

Der Gipfel des Pollux.

Der vergletscherte Gipfel des Pollux ist jetzt zum Greifen nah!

Anschließend nimmt er uns beiseite und erklärt uns, was wir alles sehen. Das Matterhorn (4478m), das Breithorn (4164m), der Liskamm (4527m), die Dufourspitze (4634m) und natürlich der Castor (4223m) – alles, was Rang und Namen hat, ist von hier oben zu erkennen. Hinter dem Aostatal, fern am Horizont, zeigt sich sogar der mächtige Mont Blanc (4810m).

Der Blick vom Pollux auf den Castor.

Im Süden sehen wir unser ursprüngliches Tagesziel: den eindrucksvollen Castor.

Abstieg, Absturz, Abschied

Für ein paar Minuten genießen wir noch die herrliche Aussicht, dann wird es Zeit für den Abstieg. Dieser hat es noch einmal in sich! Zunächst wartet erneut die zehn Meter hohe Wand auf uns. »Ich sichere euch von hier oben, und ihr seilt euch langsam ab«, erklärt uns Angelo. Dann deutet er auf einen anderen Bergführer, der bereits in der Wand hängt. »Macht es einfach genauso wie er.« Aufmerksam beobachten wir, wie der Guide sich langsam hinablässt und mit seinen Beinen nach einem Tritt tastet. Gerade als er den nächsten Schritt machen will, verliert er plötzlich den Halt. Mit einem lauten Ratsch schleifen die Steigeisen über den blanken Fels und der Bergführer stürzt einen Meter ab. Dann fängt ihn sein Seil. »Naja, macht es vielleicht doch nicht so wie er...«, flüstert uns Angelo schelmisch zu.

Nachdem der andere Bergführer die Stelle schließlich doch noch sicher gemeistert hat, sind wir an der Reihe. Aber auch wir haben mit der Felsstufe ordentlich zu kämpfen. Erst schlittert mein Begleiter über die Wand hinab, dann verliere auch ich den Halt und baumle über dem Abgrund. Doch zum Glück hat uns Angelo gut abgesichert. Mit ein wenig Adrenalin und viel Konzentration meistern wir die Schlüsselstelle kurz darauf schließlich aber doch. Aus dem Gröbsten sind wir nun raus. Nach einer letzten großen Pause am Fuß des Pollux (4092m) geht es nun langsam zurück zur Bergstation am Klein Matterhorn (3831m). Dort endet unsere Tour. Gemeinsam mit Angelo schlendern wir noch durch den dunklen Bergstollen zu den Seilbahnkabinen. »Jetzt gibt’s dann erst einmal Kaffee und Kuchen, oder?«, lacht Angelo. Ja, das haben wir uns heute redlich verdient!

Blick vom Pollux auf den Castor.

Nach über fünf Stunden rückt das Klein Matterhorn wieder in unser Blickfeld.

StationenDistanzDifferenzZeit
Klein Matterhorn
→ Pollux ✝ +5,3 km 419 m ↑ 200 m ↓ +2h 50m
→ Klein Matterhorn+5,3 km 200 m ↑ 419 m ↓ +2h 50m
Gesamt 10,6 km 619 m ↑ 619 m ↓ 5h 40m