Der Blick vom Glacier Crest Trail auf die Abbots Ridge.

Regenschlacht im Glacier National Park

Der Glacier Crest Trail


03./04. Juli 2019 • Autor: red.


Übersicht

Dieser Bericht beschreibt unsere Wanderung auf dem Glacier Crest Trail im Glacier National Park. Nach einer erholsamen Nacht auf der A. O. Wheeler Hut brechen wir bei strömendem Regen auf, um den langgezogenen Kamm zwischen dem Illecillewaet Glacier und dem Asulkan Glacier einen Besuch abzustatten. Dabei passieren wir unter anderem auch die Überreste des alten Glacier House aus der Blütezeit des Rogers Pass.

Schwierigkeit: T3GPS-Route: Download

Willkommen im Glacier National Park

»Endlich!« Nach einer achtstündigen Autofahrt durch halb British Columbia erreichen wir am späten Abend den Glacier National Park — den zweitältesten Nationalpark Kanadas. Unberührte Wälder, eindrucksvolle Gipfel und gigantische Gletscher prägen das Bild. Kurz vor dem Rogers Pass verlassen wir den Trans-Canada Highway und biegen auf die unscheinbare Zufahrtsstraße des Illecillewaet Campground (1240m) ein. Jetzt, im Juli, ist der Zeltplatz wie erwartet bis auf den letzten Platz gefüllt. Doch uns kann das zum Glück egal sein: Wir haben für heute Nacht etwas Luxuriöseres gebucht. Am Ende der Zufahrtsstraße stellen wir unseren Wagen ab.

Ein Abend auf der Wheeler Hut

Nachdem wir uns erst einmal ordentlich gestreckt haben, packen wir unsere Rucksäcke mit dem Nötigsten und stapfen hinauf zur A. O. Wheeler Hut (1250m), die uns heute als Nachtlager dienen wird. Die rustikale Selbstversorgerhütte wurde bereits 1947 eröffnet und gehört somit zu den ältesten Herbergen in den Columbia Mountains. Benannt wurde sie nach Arthur Oliver Wheeler — einem irischen Auswanderer, Landvermesser, und dem Gründer des Alpine Club of Canada. Da es mittlerweile angefangen hat zu nieseln, beeilen wir uns, zur Hütte zu kommen. Doch der Weg ist zum Glück nicht weit. Nach nicht einmal fünf Minuten stehen wir vor dem altehrwürdigen Bau.

Die A. O. Wheeler Hut im Glacier National Park.

Die A. O. Wheeler Hut gehört zu den ältesten Hütten in den Columbia Mountains.

Während es draußen immer ungemütlicher wird, herrscht im Innern der alten Blockhütte eine wohlige Atmosphäre. Eine Familie sitzt in der Küche und spielt im warmen Licht der Gaslampen eine Runde Karten, und in der Gaststube lassen drei junge Männer den Abend gemütlich mit einem Bier ausklingen. Abgesehen davon ist hier nicht viel los. Nachdem wir uns etwas umgesehen haben, steigen wir die Leitersprossen hinauf zum Lager und legen schon einmal unsere Rucksäcke ab.

Den Rest des Abends verbringen wir unten in der Gaststube. Während draußen der Regen immer stärker wird, schmökern wir noch gemütlich im Hüttenbuch. Am meisten amüsieren uns die Einträge, die von den tierischen Bewohnern der Hütte handeln. Anekdoten, die von Mäusen, Eichhörnchen und Fichtenmardern erzählen, ziehen sich wie ein roter Faden durch die Jahre.


Had a wonderful time just the 4 of us in this big wonderful cabin. All the way from Nova Scotia to explore the secrets of the Asulkan Valley. Saw some Marmot bathing in the sun. Caught 13 mice! Keep those traps loaded!

— Debbie & Brian Smith
Genevieve Paré
Ian McFarlane

Dear small rodent,
We’re sorry we’re invading your home. We hope you’re chill with the name Jeremy. In return, you’ll see some beautiful poetry above. We love you, Jeremy

— Lake O Group 12

Beware of the pine marten! Listen to the warning, as he loves and now has a taste for Viet subs (that guy stole 3 of ours).

— Anonym


Nach und nach verabschieden sich die anderen Gäste, bis letztlich nur noch wir übrig sind. Es ist gerade einmal neun Uhr abends, aber auch wir selbst sind mittlerweile von den Strapazen des Tages erschöpft. Sorgfältig löschen wir noch die Gaslampen im Untergeschoss, dann tasten auch wir uns leise die Stiegen hinauf zu unserem Nachtlager.

Die Gaststube der A. O. Wheeler Hut im Glacier National Park.

Die gemütliche Gaststube der Wheeler Hut lädt zum Verweilen ein.

Ein regnerischer Morgen

Nach einer geruhsamen Nacht schälen wir uns gegen 06:30 Uhr aus den Schlafsäcken und schleichen mit unseren Müsli-Beuteln leise hinab in die Gaststube. Draußen ist es über Nacht noch ungemütlicher geworden. Mittlerweile regnet es in Strömen, und so lassen wir uns ordentlich Zeit mit unserem Frühstück. Doch irgendwann sind die Müsli-Beutel leer und wir der letzten Ausrede beraubt. Missmutig machen wir uns abmarschbereit — denn gewandert wird heute natürlich trotzdem.

Mit der Kapuze weit übers Gesicht gezogen treten wir hinaus in den nass-kalten Juli-Morgen. Über die Gipfel der Selkirk Mountains ziehen zerrissene Nebelschwaden, und die Vergissmeinnicht und Kanadischen Hartriegel am Wegesrand beben unter dem Trommelfeuer des Regens. Nachdem wir unsere Rucksäcke unten am Auto entrümpelt haben, machen wir uns — dem Wetter zum Trotz — auf den Weg in die Wildnis. Unser Ziel ist der Glacier Crest Trail, der den langgezogenen Kamm zwischen dem Illecillewaet Glacier und dem Asulkan Glacier erschließt. Zum ersten Mal wurde der Kamm am 19. Juli 1888 von William Spotswood Green begangen.

Nebelschwaden über dem Cheops Mountain im Glacier National Park.

Dichte Nebelschwaden ziehen über die Selkirk Range hinweg.

Die Ruinen des Glacier House

Wir sind noch nicht lange unterwegs, als wir kurz hinter dem tosenden Illecillewaet River auf eine kleine Lichtung stoßen, die mit altem Mauerwerk und Fundamentruinen übersät ist. Es sind die Überreste des Glacier House (1256m) — ein opulentes Bergresort, das zur Jahrhundertwende eine zentrale Rolle in der Erschließung Kanadas spielte. Nach der Fertigstellung der transkontinentalen Eisenbahn im November 1885, eröffnete die Canadian Pacific Railway 1886 hier neben einer Bahnstation auch ein luxuriöses Hotel, das sich selbst vor den besten Unterkünften in New York oder Monte Carlo nicht verstecken musste. Neben 90 Gästezimmern und einem großen Speisesaal konnte die Herberge auch mit einem Aussichtsturm, einer Bowlingbahn und einem Lustgarten aufwarten. Doch es war vor allem die einzigartige Lage des Hotels, unmittelbar im Schatten des Great Glacier — heute unter dem Namen Illecillewaet Glacier bekannt — die Bergsteiger, Abenteurer und Touristen aus aller Welt anlockte. Das Glacier House wurde zu einer Insel der Zivilisation in der abgeschiedenen Wildnis des Glacier National Parks.


Soon, however, it became apparent that this beautiful spot would be a favourite with lovers of nature in all its wild grandeur.

— A. O. Wheeler (1905): The Selkirk Range, Vol. 1.


Doch so sternenhaft der Aufstieg des Bergresorts war, so schnell war auch sein Niedergang. Die äußerst schneereichen Winter — im Schnitt fielen pro Saison mehr als zehn Meter Schnee — besiegelten schon bald das Ende der Blütezeit am Glacier House. Immer wieder wurde die Bahnstrecke von Lawinenabgängen verwüstet, was nicht immer glimpflich ausging. Zwischen 1885 und 1910 kamen mehr als 200 Menschen durch Lawinen am Rogers Pass ums Leben.

Das Glacier House vor dem Illecillewaet Glacier.

Das Glacier House vor dem Illecillewaet Glacier.

(Foto: William McFarlane Notman, 1909).

Das schlimmste Unglück ereignete sich am 04. März 1910. Nachdem es über eine Woche lang ununterbrochen geschneit hatte, war eine Lawine vom Cheops Mountain (2517m) abgegangen und hatte einen Teil der Strecke verschüttet. 63 Eisenbahner machten sich mit einem lokomotiv-gezogenen Schneepflug auf den Weg, um die Gleise vom Schnee zu befreien. Doch gegen 23:30 Uhr, nachdem die Strecke fast freigeräumt war, donnerte vom Avalanche Mountain (2861m) auf der gegenüberliegenden Talseite eine zweite Lawine herunter und begrub die Eisenbahnarbeiter unter meterhohen Schneemassen. Nur ein einziger Arbeiter überlebte, 62 Männer fanden den Tod.

Spätestens mit der Lawinenkatastrophe von 1910 war klar, dass die Strecke über den Rogers Pass auf Dauer nicht haltbar sein würde. Um weitere Unglücke zu vermeiden, entschlossen sich die Verantwortlichen der Canadian Pacific Railway dazu, die Bahntrasse unter die Erde zu verlegen. Im Jahr 1916 wurde der Connaught-Tunnel, der durch die Basis des Mount Macdonald (2883m) führt, fertiggestellt — und so neigte sich das Goldene Zeitalter am Rogers Pass dem Ende entgegen. Nach der Verlegung der Eisenbahnstrecke blieben die Besucher zunehmenden aus, so dass das Glacier House im Jahr 1925 endgültig seine Pforten schließen musste. Vier Jahre später wurde das Hotel abgerissen.

Die Ruinen des Glacier House im Glacier National Park.

Heute lassen nur noch die Fundamente erahnen, wie es hier einst ausgesehen haben mag.

Tiersichtungen

Nicht weit von den Ruinen des Glacier House entfernt entdecken wir auch einen kleinen unbesetzten Stand der Nationalparkverwaltung. Speziell eine große, dreidimensionale Panoramakarte der umliegenden Berge zieht unsere Blick auf sich. Auf ihr sind neben dem gesamten Wegenetz auch die letzten gemeldeten Tiersichtungen mit farbigen Fähnchen vermerkt. Rot steht für Grizzlys, gelb für Schwarzbären, orange für Berglöwen, blau für Wölfe, weiß für Schneeziegen, lila für Vielfraße, und grün für Stachelschweine, Eisgraue Murmeltiere und Pfeifhasen.

Während der Asulkan Valley Trail geradezu mit roten und gelben Fähnchen gespickt ist, kann der Glacier Crest Trail lediglich mit zwei roten und einem weißen Fähnchen aufwarten. Mein Begleiter drängt darauf, Ersten zu gehen, da er unbedingt einen Bären sehen will. Dass man Begegnungen mit Grizzlys und Schwarzbären eher vermeiden sollte, speziell wenn man wie wir kein Bärenspray dabei hat, ist noch nicht zu ihm vorgedrungen. Ich will lieber auf Nummer Sicher gehen und tendiere daher eher zum Glacier Crest Trail. So oder so, der Zustieg zu beiden Trails ist zunächst derselbe. Während der Regen noch immer unerbittlich herabprasselt, verschwinden wir in der tiefen Wildnis des Tales.

Der Glacier Crest Trail

Als wir eine halbe Stunde später den tosenden Asulkan Brook überqueren, müssen wir uns schließlich entscheiden. Glücklicherweise ist mein Begleiter mittlerweile vernünftig geworden und lässt sich zum Glacier Crest Trail überreden. Dieser führt uns jetzt über eine endlose Reihe von Serpentinen den dicht bewaldeten Berghang hinauf. Schnell merken wir, dass wir hier mit keinen atemberaubenden Fernblicken rechnen sollten. Zu dicht stehen die Tannen beieinander und verhindern jeglichen Versuch, einen Blick auf die unberührte Wildnis der Selkirk Range zu erhaschen. Doch bei der heutigen Witterung hätten wir sowieso nichts gesehen. »Da wollen nicht einmal die Bären vor die Türe treten, bei diesem Dreckswetter…«, sage ich zu meinem Begleiter.


For 2,000 feet we ascended through forests so dense that no distant view was possible. Nothing was visible but the huge stems of the hemlock and balsam firs.

— W. S. Green (1890): Among the Selkirk Glaciers.


Erst nach zweieinhalb Stunden findet die Serpentinen-Monotonie ein Ende. Der Wald öffnet sich, der Weg flacht ab, und die ersten Schneefelder erscheinen vor uns. Nachdem wir ein paar imposante Schieferformationen passiert haben, müssen wir schon bald einen von Blockwerk überzogenen Hang queren. Grüne Flechten bedecken die teils klaviergroßen, schwach metamorphosierten Tonschieferbrocken. Zu unserer Freude lichtet sich der Nebel mittlerweile stellenweise. Im Westen zeigt sich uns ein gigantischer Wasserfall, der über die grüne Flanke der Abbott Ridge ins Asulkan Valley stürzt, und im Norden blitzt kurzzeitig auch der Trans-Canada Highway hervor.

Blockwerk aus Tonschiefer am Glacier Crest Trail im Glacier National Park.

Wuchtige Tonschieferblöcke erschweren die Hangquerung.

Zügig queren wir den Hang, bis es irgendwann nicht mehr weiterzugehen scheint. Erst nach einigem Suchen entdecken wir, versteckt hinter einigen Latschen, doch wieder ein paar Wegspuren, die zur Gratkante hinaufführen. Kurz bevor wir diese jedoch erreichen, landen wir auf einem weitläufigen Plateau. »Ich glaube, da müssen wir rauf«, ruft mir mein Begleiter zu und deutet auf eine Kuppe, auf der ein Pfosten thront.

Die letzten Meter des Glacier Crest Trail im Glacier National Park.

Fast am Ziel: Der finale Anstieg liegt endlich vor uns.

Obwohl die Spitze schon zum Greifen nah erscheint, verlangt uns der Schlussanstieg noch einmal alles ab. Da uns der Anstieg über das steile Schneefeld direkt vor uns zu riskant erscheint, wollen wir lieber über den Geröllhang linkerhand aufsteigen. Doch schnell merken wir, dass auch das kein einfaches Unterfangen ist. Der Blockschutt stellt sich als ziemlich instabil heraus. Mit viel Balance-Gefühl schaffen wir es aber dennoch hinauf, und stehen schließlich vor dem Pfosten, der das Ende des Glacier Crest Trail (2251m) markiert.


Though not actually the summit of the ridge, it was a good clearly-marked position, commanding a splendid view of Sir Donald and all the surrounding mountains…

— W. S. Green (1890): Among the Selkirk Glaciers.


Ein unbefriedigender Höhepunkt

Noch immer regnet es, und auch der Nebel hat sich nicht aufgelöst. Der »grandiose Ausblick«, von dem William Spotswood Green bei der Erstbegehung vor ziemlich genau 131 Jahren schwärmte, bleibt uns heute verwehrt. Weder der Illecillewaet noch der Asulkan Glacier sind zu sehen, und auch die imposanten Gipfel der Selkirk Range halten sich stur hinter den undurchdringlichen Nebelschwaden versteckt. Es ist ein wahrlich unbefriedigender Höhepunkt. Wortlos setzen wir uns auf einen Schieferblock und holen unseren Proviant heraus. »Ich kann mir schon vorstellen, dass man hier eine Wahnsinnsaussicht hätte«, durchbricht mein Begleiter die Stille, »… wenn’s Wetter halt mitspielen würde.«

Der Endpunkt des Glacier Crest Trail im Glacier National Park.

Ein Pfosten markiert das Ende des Glacier Crest Trail.

Rückkehr im Regen

Bevor wir im kalten Wind noch auskühlen, treten wir schon bald den Rückweg an. Vorsichtig tasten wir uns wieder über den Schutthang hinab, queren das Blockwerk unterhalb der Gratkante, und verschwinden schließlich wieder auf dem Serpentinenweg im Wald. Knapp zwei Stunden sind wir unterwegs, bis wir wieder vor den Ruinen des Glacier House (1256m) stehen. Am Stand der Nationalparkverwaltung plausche ich noch kurz mit einer jungen Rangerin, die uns ob unserer nassen Klamotten ganz mitleidig ansieht, dann geht es zurück zur Wheeler Hut (1250m). Im Eingangsbereich befreien wir uns von den vollgesogenen Regenjacken, doch das macht kaum einen Unterschied: Wir sind nass bis auf die Knochen. Eine knappe halbe Stunde sitzen wir noch in der Gaststube und versuchen uns etwas aufzuwärmen, dann stapfen wir zurück zu unserem Auto. Dort schlüpfen wir endlich wieder in trockene Klamotten und nehmen Abschied vom Glacier National Park.

Der Abstieg vom Glacier Crest Trail im Glacier National Park.

Nach einer kurzen Brotzeitpause machen wir uns auf den Weg zurück ins Tal.

StationenDistanzDifferenzZeit
Illecillewaet Campground
→ A. O. Wheeler Hut +0,2 km 10 m ↑ 0 m ↓+0h 05m
→ Glacier Crest +5,5 km1001 m ↑ 0 m ↓+3h 00m
→ A. O. Wheeler Hut +5,5 km 0 m ↑1001 m ↓+2h 00m
→ Illecillewaet Campground +0,2 km 0 m ↑ 10 m ↓+0h 05m
Gesamt 11,4 km1011 m ↑1011 m ↓ 5h 10m